Fast nichts als vergessene Dichter?
Natürlich kamen auch in Gardelegen immer nur kleine Kinder auf die Welt, aber aus einigen von ihnen wurden doch die sprichwörtlichen „großen Söhne“. Die Namen werden Ihnen vielleicht nicht viel sagen, aber in ihrer Zeit wurden sie – jeder auf seine Weise – zu Botschaftern unserer Stadt.
Bartholomaeus Rieseberg (24.08.1492 - 10.08.1566)
Der Schüler Luthers brachte am 11. November 1539 mit seiner flammenden Predigt von St. Marien die Reformation in die Altmark. 1566 gehörte der Kirchenmann zu den 2000 Pestopfern, die Gardelegen zu beklagen hatte. In der Marienkirche, die auch das einzige existierende zeitgenössische Bildnis von ihm beherbergt, wurde Rieseberg auch beerdigt. Übrigens: Waschechter Gardelegener ist er erst seit 2011. Da nämlich wurde sein Geburtsort Wernitz eingemeindet.
Christoph August Tiedge (14.12.1752 - 08.03.1841)
Dem heute vergessenen Lyriker gelang 1801 mit seinem von Beethoven vertonten Lehrgedicht „Urania“ ein ganz großer Wurf, der ihn mit einem Schlage in die erste Reihe der Dichter seiner Zeit katapultierte. Leider blieb es dabei, und so musste Tiedge seine Brötchen als Reisebegleiter der Gräfin Elisa von der Recke verdienen – auch das ist sicher nicht das Schlechteste. Durch sie kam er 1819 nach Dresden, wo er seinen bedeutendsten Dichterkollegen begegnete, 1841 starb und neben seiner „Dienstherrin“ beigesetzt wurde. Sein Geburtshaus, das alte Pfarrhaus von St. Nicolai am Holzmarkt, trägt über dem schönen Sandsteinportal noch eine uralte Gedenktafel, die an Tiedge erinnert. Auch am Berliner Nicolaihaus in der Brüderstraße, einem Musentempel von einst, wird der beiden gedacht. Und sogar an der Felsenburg Neurathen im Elbsandsteingebirge erinnert ein Gedenkstein an den „Saenger der Urania“, einen Gardelegener!
Jakob Wilhelm Bornemann (02.02.1766 - 23.05.1851)
Bei Kennern gilt Bornemann als einer der bedeutendsten plattdeutschen Dichter. Otto Normalverbraucher kennt zwar sein Lied „Im Wald und auf der Heide“ – weiß aber meistens nicht, dass es einst von Bornemann erdacht wurde. In Gardelegen erinnern an ihn sowohl eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus in der Sandstraße als auch der Bornemannstein am Rande des Lindenthaler Forstes. Sogar im Berliner Wedding, wo er sich später niederließ und auch starb, wird seiner mit einer Bornemannstraße gedacht. Allerdings wegen seiner Verdienste als Generaldirektor der Preußischen Lotterie, denn vom Dichten konnte auch dieser Gardeleger nicht leben.
Ludolf Parisius (15.10.1827 - 11.03.1900)
Sein Leben lang setzte sich dieser Mann für die Sache der Demokratie, für Fortschritt und Freisinn ein – als Abgeordneter des Preußischen Landtags, als Mitglied des Abgeordnetenhauses und als Reichstagsabgeordneter. Obwohl er sich 1864 in Berlin niedergelassen hatte und dort auch starb, gehörte sein Herz der altmärkischen Heimat. Noch zu seinen Lebzeiten erschien das legendäre Standardwerk „Bilder aus der Altmark“. Seine umfangreiche Sammlung altmärkischen Liedgutes blieb Fragment und wurde erst in den 1950er Jahren von Professor Maria Weber-Kellermann herausgegeben. Sein rekonstruiertes Geburtshaus am Holzmarkt gehört heute zum heilpädagogischen Kindergarten „Arche Noah“. Parisius hätte diese Nutzung sicher gefreut …
Rudolf Lindau
Noch ein Literat aus Gardelegen. Noch einer, der in Berlin sein Glück suchte. Seine journalistischen Arbeiten waren im Bildungsbürgertum beliebt, seine Romane und Erzählungen wurden sogar von Theodor Fontane geschätzt. Lindau war Diplomat in Tokyo, Kriegsberichterstatter während des deutsch-französischen Krieges 1870/71, Botschaftsattaché in Paris. Auf schriftstellerischem Gebiet stand Rudolf Lindau immer im Schatten seines jüngeren Bruders Paul. Doch der war nicht aus Gardelegen…
Mitglieder der Familie von Kröcher
Jordan von Kröcher (23.05.1846 - 10.01.1918)
Der auf Schloss Isenschnibbe geborene Jordan von Kröcher erlangt seine überregionale Bedeutung auf politischem Parkett. Als Mitglied der Deutschkonservativen Partei gehört er von 1879 bis 1882 und dann wieder von 1889 bis 1918 dem Preußischen Abgeordnetenhaus an und bekleidet von 1898 bis 1911 das Amt des Parlamentspräsidenten. Seine Demission von dieser Funktion erfolgt 1912 aus Protest gegen die deutsche Außenpolitik im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Drei Legislaturperioden hindurch, von 1898 bis 1913, ist Jordan von Kröcher Mitglied des Deutschen Reichstags. 1918 stirbt er auf seinem Alterssitz, Schloss Vinzelberg bei Stendal. Das Schloss Isenschnibbe gehörte damals der Familie von Kröcher bereits nicht mehr.
Bertha Luise Ida von Kröcher (24.05.1857 - 12.03.1922)
Die jüngere Schwester des Jordan von Kröcher wirkt als Sozialreformerin und beschäftigt sich hier vor allem mit der Frauenfrage – als Antipode zu Frauenrechtlerinnen wie Louise Otto-Peters und Clara Zetkin. So gründet sie mehrere in ihrer Zeit bedeutende evangelisch geprägte Gremien, die auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Frau abzielen. Weitreichende Bedeutung erlangen der Kapellenverein und die Vereinigung Konservativer Frauen. Bertha von Körner widmet sich vor allem der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen auf evangelischer Ebene.
Rabod von Kröcher (30.06.1880 - 25.12.1945)
Der Sohn des Jordan von Kröcher folgt seinem Vater als Jurist. Sein Stückchen Weltgeschichte schreibt er als einer der namhaftesten Springreiter seiner Zeit. Sein größter Erfolg ist der Gewinn der Silbermedaille mit seinem Pferd „Dohna“ im Jagdspringen bei den Olympischen Spielen von Stockholm 1912. Damit ist Rabod von Kröcher der erste Olympiamedaillengewinner der Region. Nach dem Ersten Weltkrieg zieht sich der Kavallerieoffizier auf das elterliche Gut Vinzelberg zurück, auf dem er bis zu seiner Enteignung 1945 lebt.
Carl "Carlos" Backhausen (22.12.1849 - 28.02.1900)
Dass sich dieser Mann einst aufmachte, um das chilenische Feuerland und seine Ureinwohnerschaft zu erforschen, hat ihm schon zu Lebzeiten niemand gedankt. Zwei in spanischer Sprache verfasste Forschungsberichte und ein Platz in der Fachliteratur machen seine „zehn Sekunden Weltgeschichte“ aus. Der Weltreisende kehrte immer wieder nach Gardelegen zurück und starb dort – verarmt und von der Welt vergessen.
Karl Friedrich Zimmer (22.09.1855 - 05.12.1919)
Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn liegen den Gardelegenern im Blut, heißt es. Einer, der dies zu seinem Prinzip gemacht hat, war der in Gardelegen geborene evangelische Theologe Karl Friedrich Zimmer. Zimmers wichtigste Leistung bestand in der Gründung des Vereins zur Sicherstellung von Dienstleistungen in der Diakonie, dem späteren Evangelischen Diakonieverein, am 11. April 1894. Mit der Einrichtung von Diakonieseminaren für Krankenpflege und Kinderkrankenpflege. Diese boten eine kostenlose Ausbildung, die Frauen unabhängig von Ehe und Familie machte und Selbstbestimmtheit garantierte. Zimmer richtete darüber hinaus Pflegerinnenschulen für Frauen und Mädchen aus bildungsferneren Schichten ein, die sich durch deren Besuch eine berufliche Perspektive aufbauen konnten. Auch die ersten Töchter-, Pflege- und Heilerziehungsheime wurden von Karl Friedrich Zimmer eingerichtet. Die weitere Tätigkeit des Freimaurers – Berliner Loge Urania zur Unsterblichkeit – betraf verschiedene soziale Objekte. Dazu gehört die noch heute bestehende Mathilde-Zimmer-Stiftung um das Legat seiner Ehefrau. Die Stiftung unterhält Seniorenwohn- und Pflegeheime in zahlreichen deutschen Städten.
Otto Reutter (24.04.1870 - 03.03.1931)
Ohne Frage ist er der berühmteste Sohn Gardelegens. Der kleine Dicke mit den blitzenden Äuglein war mehr als drei Jahrzehnte hindurch der beste – und bestbezahlte – Varietékünstler Deutschlands. Auf allen deutschsprachigen Varietébühnen, allen voran dem legendären Berliner „Wintergarten“, zu Hause, erdachte Reutter mehr als 1500 Couplets, von denen viele bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Seine Platten waren Verkaufsschlager, die Noten erreichten Millionenauflagen. Auch der Rundfunk und der noch in den Kinderschuhen steckende Tonfilm bemächtigten sich seiner. Mitten in der künstlerischen Arbeit verstarb der große Sorgenbrecher, Genießer und Lebemann während einer Tournee in Düsseldorf. Seinem Wunsch entsprechend, wurde er in Gardelegen beigesetzt. Die Erinnerungen an Reutter sind vielfältig: Da ist die Gedenktafel am Nachfolgebau des längst abgerissenen Geburtshauses in der Sandstraße. Da ist das schöne Grabmal auf dem Städtischen Friedhof. Da ist sein leider nicht zugängliches Domizil „Waldschnibbe“ am Rande der Alten Letzlinger Straße. Da steht auf dem Otto-Reutter-Platz ein kleiner Gedenkstein. Da gibt es auf dem Holzmarkt den Otto-Reutter-Brunnen. Und da spaziert er rund um die Uhr „in bronzener Gestalt“ als Denkmal von Heinrich Apel mitten unter seinen Gardelegern, denen er sich mal mehr, mal weniger, aber immer irgendwie verbunden fühlte.
Richard Wolfgang Sonnenfeldt (03.07.1923 - 9.10.2009)
Nicht immer verlässt man seine Heimatstadt freiwillig. Die Brüder Richard und Helmut Sonnenfeldt, Söhne einer angesehenen und beliebten Gardeleger Arztfamilie, emigrierten bereits als Kinder, gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Judenpogrome. Später machten beide auf dem weiten Feld der Politik, aber auch sonst Karriere: Richard Sonnenfeldt war während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nicht nur der jüngste, sondern auch der wichtigste aller Dolmetscher. In seinem Beruf als Elektroingenieur war er führend an der Entwicklung des Farbfernsehens und später sogar an der Vorbereitung der ersten Mondlandung beteiligt.
Helmut Sonnenfeldt (13.09.1926 - 18.11.2012)
Helmut Sonnenfeldt war als gefragter Sowjetunion- und Osteuropa-Experte Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates und galt in dieser Eigenschaft als „Kissingers Eckermann“. Er wirkte auch als außenpolitischer Berater der US-Präsidenten Richard Nixon und Henry Ford. Das Haus in der Sandstraße, in dem das Ehepaar Sonnenfeldt praktizierte und ihre Söhne aufgewachsen sind, trägt heute eine Gedenktafel.
Christa Stubnick-Seliger (12.09.1933)
Ehrlich gesagt, mussten wir lange in den Archiven kramen, um eine Gardelegerin zu finden, die unsere Stadt in der Welt bekannt gemacht hat. Schließlich wurden wir auf den Sportseiten der fünfziger Jahre fündig. Zu dieser Zeit nämlich fegte Christa Stubnick-Seliger vom Gardeleger Holzmarkt, geboren am 12. September 1933, auf den schnellsten Beinen Europas über die Aschenbahnen und lehrte den weltbesten Sprinterinnen das Fürchten. Ihre größten Erfolge feierte sie bei den XVI. Olympischen Spielen 1956 in Melbourne mit dem Gewinn der Silbermedaillen über 100 und 200 Meter. Übrigens: Obwohl die schnelle Christa schon lange nicht mehr in Gardelegen lebt, vergisst sie nie zu betonen, dass sie immer noch stolz auf ihre Heimatstadt ist.
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